«Einsätze von morgen gestalten»

Editorial

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser,

«Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.» Die Haltung, die der französische Pilot und Schriftsteller im Zitat zum Ausdruck bringt, ist in Phasen des Wandels besonders wichtig. Wer Umbrüche mitgestaltet, macht Zukunft möglich. Und Wandel kennzeichnet das Umfeld des Zivildienstes und somit auch des Bundesamts ZIVI.

Kein Silodenken im Dienstpflichtsystem

Ich denke etwa an das Dienstpflichtsystem – verstanden als Gesamtheit der Einsatzorganisationen Armee, Zivilschutz und Zivildienst samt den finanziellen Bestandteilen von Erwerbsersatzordnung und Wehrpflichtersatz. Einzelnen Gefässen des Systems mangelt es an Personalbeständen, nicht nur in Bezug auf die Zahl der Dienstpflichtigen, sondern auch auf deren Fähigkeiten und Kompetenzen. Dieser Mangel wird sich in naher Zukunft erheblich akzentuieren. Der Bundesrat hat bereits am 28. Juni 2017 einen Auftrag an das Eidg. Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS gegeben, bis Ende 2020 einen Bericht vorzulegen, der in Zusammenarbeit mit dem Eidg. Departement für Wirtschaft Bildung und Forschung WBF analysiert, wie aufgrund der momentanen Situation die Alimentierung von Zivilschutz und Armee langfristig gesichert werden kann.

«Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.»

In diesem Rahmen prüfen VBS und WBF insbesondere auch, ob und gegebenenfalls wie Bestandesprobleme im Zivilschutz durch eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Zivildienst und Zivilschutz abgefedert werden können. Ist es möglich, dass Zivis einen Teil ihrer Zivildienstpflicht bei Zivilschutzorganisationen leisten? Was ist dazu in der Planung und Steuerung auf gesetzlicher, struktureller, finanzieller, organisatorischer und betrieblicher Ebene und auf welcher föderalen Ebene vorzusehen? Die Zukunft kann ich nicht voraussehen. «Die Zukunft möglich machen» bedeutet in diesem Zusammenhang aber, offen, integral und bedarfsorientiert zu denken. Ein Silodenken bringt keinen Fortschritt. Zu stark sind die Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Gefässen Armee, Zivildienst, Zivilschutz, Wehrpflichtersatz und EO. Ausgangspunkt ist daher stets die Frage: Welche Bedürfnisse der Gesellschaft muss das Dienstpflichtsystem als Ganzes und insbesondere im Bereich der Sicherheit erfüllen?

Christoph Hartmann, Direktor

Bedürfnisse von morgen antizipieren

Dem Zivildienst stellen sich solche Fragen, weil sich die gesellschaftlichen Bedürfnisse vor dem Hintergrund der Megatrends Demographie und Klimawandel verändern. Davon betroffen sind die meisten Einsätze im Zivildienst, die bekanntlich in der Pflege und Betreuung von Menschen sowie im Umwelt- und Naturschutz stattfinden. In diesen Feldern herrscht bei den Aufgaben wie bei den Lösungen alles andere als Stillstand – um nicht Umbruch zu sagen. Dies kommt auch in der gesundheitspolitischen Strategie 2020–2030 zum Ausdruck, die der Bundesrat am 6. Dezember 2019 verabschiedet hat. Der Zivildienst ist eine kleine und bewusst arbeitsmarktneutral ausgestaltete Ressource. Mit Blick auf den Verfassungsauftrag ist dabei massgeblich: nicht der Bedarf, sondern einzig das Geltendmachen eines Gewissenskonflikts ist Zulassungskriterium zum Zivildienst. Aber wer einen Gewissenskonflikt hat und den zivilen Ersatzdienst leistet, soll nicht nur heute, sondern auch morgen wirkungsvolle Einsätze leisten. Wenn der Personalbedarf zur Erbringung gesellschaftlicher Leistungen insgesamt tendenziell steigt und im Zivildienst weniger Diensttage geleistet werden, so ist eine genaue Prüfung der Wirkung der Zivi-Einsätze von morgen umso wichtiger. Das Bundesamt ZIVI antizipiert die künftigen Bedürfnisse zusammen mit den vielfältigen Stakeholdern auf Bundes-, Kantons- und Kommunalebene. Um Zukunft möglich zu machen, wird es die 2019 begonnenen strukturierten Gespräche weiterführen und die relevanten Schlüsse daraus ziehen.

Leitbild für das Bundesamt

Nicht von ungefähr lautet die Vision des neuen Leitbildes des Bundesamts ZIVI daher «Einsätze von morgen gestalten». Das Bundesamt ZIVI hat das Leitbild vergangenes Jahr eingeführt. Es beschreibt nebst der Vision auch die Mission (Einsätze vollziehen, optimieren und umsichtig beraten) und sein Alleinstellungsmerkmal (Erfahrung im Matching von zivilem gesellschaftlichem Bedarf mit Dienstleistenden). Das Leitbild ist eine Orientierungslinie für das Denken und Handeln des Bundesamts und ergänzt die Strategie 2019+ des Zivildienstes, die sich aus den Grundaufträgen an den Zivildienst ergibt und die 2017 erarbeitet und 2019 aktualisiert worden ist.

Die Projektgruppe Leitbild an einem Leitbildworkshop.

Solider Vollzug

Kein Leitbild, keine Strategie kann in den luftleeren Raum gebaut werden. Der tägliche Vollzug des Zivildienstes ist der solide Grund. Mit Zufriedenheit stelle ich fest, dass auch 2019 98,6 % der Zivis, die altershalber aus der Zivildienstpflicht entlassen wurden, sämtliche nach Gesetz zu leistenden Diensttage tatsächlich erbracht hatten. Sie absolvierten die Diensttage zur weitgehenden Zufriedenheit der Einsatzbetriebe und bei tiefen Vollzugskosten zulasten der Steuerzahlenden. Dies spricht für die Dienstbereitschaft der Zivis und auch für die Konsequenz im Vollzug des Zivildienstes. Dessen wichtigste Kennzahlen sind auch im vergangenen Jahr gegenüber dem Vorjahr leicht rückläufig: Das ZIVI verzeichnete 2019 einen Rückgang an anerkannten Einsatzbetrieben (-161), an geleisteten Diensttagen (rund 8000 weniger) und an Zulassungen zum Zivildienst (-1,9 %). Die Gründe sind vielfältig. Einsatzbetriebe werden nur noch beschränkt anerkannt, weil genügend Einsatzplätze vorhanden sind. Werden weniger Zivis zugelassen, nimmt auch die Anzahl Diensttage ab. Dass die Anzahl an Zulassungen gesunken ist, 2019 mit 1,9 % deutlich geringer als 2018 (-8,5 %), mag unter anderem auf die Einführung per 2018 des flexiblen RS-Start von Angehörigen der Armee zurückzuführen sein.

Notwendigkeit einer Gesetzesrevision

Massnahmen zur substantiellen Senkung der Anzahl Zulassungen, die der Bundesrat am 20. Februar 2019 verabschiedet hatte und die im vergangenen Jahr im Parlament beraten wurden, sind trotz dieses Rückgangs nötig und zeitlich geboten. Noch immer bewegt sich die Zahl der Abgänge aus der Armee zum Zivildienst, insbesondere von ausgebildeten Armeeangehörigen, von Kadern und Fachspezialisten, auf hohem Niveau. Die Glaubwürdigkeit des zivilen Ersatzdienstes, so wie dieser von der Verfassungsgeberin geschaffen und beschlossen wurde, ist letztlich in Gefahr, wenn Dienstpflichtige aus anderen Gründen als dem Gewissen ein Gesuch um Zulassung einreichen. Ob und wann die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das letzte Wort zu dieser Gesetzesrevision haben, wird die Zukunft weisen. Ich halte mich auch hier an das Eingangszitat – die Zukunft gilt es nicht vorauszusehen, sondern möglich zu machen. Das Bundesamt ZIVI bereitet sich darauf vor, die rasche und konsequente Umsetzung sicherzustellen, wenn die Gesetzesänderungen in Kraft treten.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, hinter dem letzten Satz dieses Editorials war bereits der Punkt gesetzt, als die Coronapandemie ausbrach: die Erfahrungen die die Einsatzorganisationen derzeit machen, sind neu. Der Zivildienst hat einen spezifischen Auftrag in einer solchen Situation und er ist dazu angehalten, mit ordentlichen Einsätzen wie auch bedarfsgerecht über den Prozess Ressourcenmanagement Bund mit Notlageneinsätzen zur Bewältigung und Regeneration der Pandemie beizutragen. Gerade jetzt zeigt sich, wie wichtig das Zusammenspiel des gesamten Dienstpflichtsystems ist. Aktuell stehen über 4000 Zivis in Einsätzen im Gesundheits-, Sozial- und Schulwesen. Ich bin überzeugt, dass das Bundesamt für Zivildienst vollumfänglich seinen Beitrag zur Wahrnehmung des Auftrags des Zivildienstes leistet.

Geschäftsberichte sind naturgemäss ein Rückblick auf das Geschäftsjahr. Dennoch hat die Pandemie auch die Inhaltserstellung dieses Berichts beeinflusst. Der Geschäftsbericht fällt etwas dünner aus, als Sie es aus vorherigen Jahren gewohnt sind. Aufgrund der in Altersheimen geltenden Schutzmassnahmen haben wir auf eine Reportage zum gewählten Schwerpunktthema «Demenz» verzichtet und stattdessen ein Videogespräch mit dem ehemaligen Zivildienstpflichtigen und Buchautor Frédéric Zwicker realisiert. Er berichtet aus seinem reichen Erfahrungsschatz über Einsätze mit Dementen und darüber, wie er diese Erfahrungen persönlich und literarisch verarbeitet hat.

Ich danke für Ihr Interesse am Zivildienst und Ihre Dialogbereitschaft mit den Mitarbeitenden des Bundesamts ZIVI!

Christoph Hartmann
Direktor

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